Tausendneunhundertzweiundachtzig Jahre Exil
oder
Hätt’ ich das gewusst, wär ich liegengeblieben.
von Kat Kaufmann
Er blutete aus den Augen. Seine Hände bluteten auch.
Das ist halt manchmal so, sagte er sich. Kenn ich schon. Bin ich anscheinend leicht überarbeitet, dachte er. Hat sich ja, seit ich 33 bin immer wieder spontan entladen, dieser Blutbad Mist. Der Verrückte aus dem Fünften hatte ihn aus seinem Mittagsschlaf gerissen, und schrie immer noch aus dem Fenster:
„Meine Kinder sind Wölfe! Wie auch ich wittern sie das schwache Fleisch! Wie auch ich scheuen sie keinen Augenblick, es sich zu nehmen, zu erniedrigen das ganze Geschlecht, die ganze Art, die Sippe! – Sie sollen wissen: SIE SIND SCHWACH!
Dies ist mir heilig!
Dies ist es, worum ich heule nachts zum Mond!
Ich bin der Abschaum meines Abschaums, und schäume aus dem Mund, wenn ich dich witter!
So lern doch eines Hundesohns Benehmen! So lebe, aber sieh dich an – das Blut, es haftet dir noch immer in den Haaren, unter den Nägeln, färbt die Zähne rot!
Und wütend schreien wir zum Himmel, der schwarzblau dort da oben waltet, dass wir nicht satt sind! Niemals satt sind!
Wir sind auf ewig die Verdammnis! Wir sind auf ewig Hundesöhne! WIR sind die Art, die wir erhalten! Wir werden alles Andre reißen!“
In der Wohnung nebenan lief der Ferneseher schon wieder so laut. Im linken Ohr bemerkte er einen leise säuselnden Tinnitus aufsteigen.
Er fuhr den Rechner hoch, und flog über die Einträge.
Empörung, brennende Häuser, Drohende Kriege, ein Kätzchen, das winkt, scheiternde Verhandlungen zwischen Weltmächten. Überall spuckte man einander ins Gesicht. Er wählte sich eines der Fotos, auf dem es brannte, und schrieb in die Kommentarzeile: „Ihr seid wie Kinder, deren Arme zu kurz sind, um die Keksdose zu greifen, die oben im Regal steht! Und in der Dose liegt es ungenutzt: Das lösungsorientierte Denken.“
Das war jetzt doch ganz schön angriffslustig, dachte er. Ob man ihn jetzt so versteht, fragte er sich. Aber man verstand ihn ohnehin noch nie richtig.
Unter das Kätzchen schrieb er nichts. Klickte das Video aber dennoch sieben Mal an, und schaute selig zu, wie das kleine pelzige Ding da vermeintlich menschlich in die Kamera salutierte.
Jemand hatte seinen Kommentar kommentiert: „Verpiss dich, du Schwuchtel!
Wegen solcher wie dir geht hier alles unter! Wahrscheinlich bist du auch so ein scheiß Schmarotzer! Du kleiner Assispast!“
Nein!, sagte er sich, da lohnt sich keine Antwort, sagte er sich, da erreicht man nichts, sagte er sich. Wenn der Mob wütet, dann wütet er. Immer noch befremdlich, diese derben Ausdrucksweisen, dachte er, doch da wo er jetzt seit geraumer Zeit wohnte, sprach man noch um einiges härter. Aber alles hat sein Gutes – jetzt wusste er zum Beispiel nicht nur, wie man ordentlich aggro abgeht, was ihm schon bei so manchem Nachtspaziergang die Haut gerettet hatte, sondern auch, wie man eine Kalaschnikow in unter einer Minute auseinander baut und wieder zusammen. Ob er selbst mal wütend war, fragte er sich. Ja, dachte er – wenn ihm zum Beispiel die Kopfhörer beim Joggen aus Versehen im besten Part eines Songs aus dem einen oder dem anderen Ohr herausfielen. Er erfreute mit diesen Zwischenstopps seiner sonst so sexy dahingleitenden Joggingtour die Passanten, weil sie schadenfroh dem langhaarigen Beau zusehen konnten, wie er an seinem Unvermögen verzweifelt. Aber wie er es drehte und wendete – da konnte man doch nicht das gleiche Wort benutzen – ‚WUT’: für die Kopfhörersache und DAS? Diese wild gewordene Welt mit der überall stolz zur Schau getragenen geistigen Gewebeschwäche? Sitzen da wie Idioten, weil es ihnen einfach nicht gelingen will, die eckige Form in die kreisrunde Aussparung zu quetschen, und geraten in Rage, dass es schlicht alle Synapsen lahmlegt!? Wer will sich denn vergleichen lassen mit denen? Wer will denn da noch wütend sein?! Ich nicht, sagte er sich, putzte die Zähne, und stellte sich vor, wie er in unter einer Minute etwa 60 Unbelehrbare einfach auf einen Schlag aus der Welt schaffen könnte mit seiner neuen Kalaschnikow, die ihm Vadim vorgestern geschenkt hatte. Ddddddddddd würde es machen, und weg wären sie, die alles Schöne in die Luft jagen wollen, unterdrücken / missbrauchen / mit der Verweigerung von Impfstoffen in die Knie zwingen / die, die sich weigern zu verstehen / die, denen die Hände zu brechen einfach nicht reichen würde…Die Liste würde lang werden. Und er müsste alles wieder selber machen. Er hatte so keinen Bock, aber ließ es sich vermeiden? Er dachte an Zombiefilme, wo Gestalten mit zerfressenen Gehirnen, fremdgesteuert verwirrtes Zeug brabbelnd durch die Straßen ziehen. Im Film sind sich irgendwie immer alle einig – Dit muss weg! Das funktioniert doch sehr gut, in den Zombiefilmen!? Dddddddd…Unbelehrbar. Aber nein. Eine Unnatürliche Selektion will ökonomisch und klug gestaltet sein, dachte er. Die sogar erst recht! Früher, dachte er, früher hätte man die Zombies einfach versklaven können. Aber das war ja nun nicht mehr PC. Planen muss man. Alles gut planen. Strategisch. Wut ist Affekt, Affekt ist Quatsch, dachte er. Das wär’ ja wie auf dem wohlgenährten Arsch rumzusitzen, bis man Hämorrhoiden kriegt, und dann herumwüten, weil man dem Druck da unten nicht mehr standhalten kann? Die Arche bricht, muss man halt schwimmen lernen. Mit solchen Geschichten kannte er sich gut aus. Wütend sein hilft da garnichts. Er band seine Haare zu einem man bun zusammen, und setzte sich wieder auf die Couch.
Jemand hatte erneut kommentiert: „Habt ihr überhaupt nen Vorstellung, wie viele Probleme es auch so schon in den Land hir gibt?“
Bildung und gute Manieren sind nur noch so viel Wert sind wie eine Schreibmaschine oder ein Röhrenfernseher in Farbe, schade, dachte er, und wischte erneut das Blut mit einem Taschentuch von seinen Unterlidern, damit es nicht auf die Tastatur tropft. Your Friend Sam liked this – er klickte drauf:
Zum Hashtag #I’mInTheElevatorCuzImCominUp das Bild eines Mädchens mit riesigem Hintern, den sie so gekonnt vor die Linse geschoben hatte, dass er nicht nur doppelt so groß sondern auch tatsächlich doppelt zu sehen war – nämlich auch in der Spiegelung des Fahrstuhlspiegels, in dem sie ‚Up’ kam. Unter dem Bild 12.085 Likes. Er überlegte – wie einfach?! Liebe, klarer Geist, Frieden – Diese Dinge hätten einen eigenen Instagram Account nötig, auf dem sie Fotos von ihren fetten Bubble-Ärschen posteten mit Hashtags wie #I’mInTheElevatorCuzImCominUp. Denn weder Liebe noch Frieden noch klarer Geist schienen ohne nachzuhelfen so sexy zu sein wie so ein Doppelarsch, nicht so lukrativ, nicht so handelbar, nicht so easy to achieve, nicht so einfach zu begreifen, zu fressen, nicht so geil, geil…Geil ist alles worum es geht! Und Glotzen! Glotzen wie in der Glotze der beschämenden menschlichen Dümpelei, diesem Herumgestocher im Bienenstock als perverse verhasste Sextouristen, die gekommen sind, ihre Tentakel in die Unsicherheitszone anderer zu stecken, gefrönt wird, als sei es das normalste der Welt. Fickend, saufend, schreiend, mordend, schweigend! Menschheit. Ihr geht mir ja so auf den Sack! Ich wär verreckt für euch!!! Und alles was ihr verstanden habt ist: Follower! Sammle Follower! Und dann zeigt ihnen den Arsch! Und jetzt schön #sekksiguckn! Und den Bettlern ein ‚fuck-off-money’ geben…
Aber eure Follower werden euch nicht retten!!! Ich weiß wovon ich rede!!
Nebenan der Fernseher immernoch auf Anschlag. Tinnitus jetzt auch.
Aus dem Fenster hörte er wieder welche skandieren. Sie bellten und jaulten. Er verstand nicht genau, was er heißen sollte, aber es klang wie WIR SIND AUS HOLZ! WIR SIND AUS HOLZ!
Dann Hupen, Fanfaren, Geschrei. Das war wirklich nicht mehr auszuhalten!
(…)
Die Wand ist durch… Ich hier mit dem Hammer in der Hand, und da sitzt die Fernsehfamilie jetzt und starrt mich an. Seit wann habe ich diesen Hammer in der Hand?! Meine Augen bluten immer noch. Die Hände auch. Voll auf den Teppich. Was denn los hier mit euch allen?
WAS LOS IST MIT EUCH AAALLEEEEN???!!!!, schrie er, und blutete weiter den
Teppich voll. Und er sah sie an, und schrie: Wohin ihr schwimmen wollt, wenn die verdammte Arche sinkt?!? Und warum ihr lieber diese hochkomplexe Lebenssphäre in Schutt und Asche zerleget, anstatt euch schön am Pimmel
rumzumachen, und einfach glücklich Käferchen zu bestaunen?! Und was eure Kindeskinder deren Kindeskindeskindern dann SAGEN SOLLN!?! Wenn die fragen, wie es denn damals so war?! Sagen die denen dann, sie sollen einfach mal die TIMELINE von Mama und Papa checken?!
Sagt ihr dann:
„Yo Kids…“,?
„Wir hatten echt ne gute Party so…“,?
„Sind wir alle halt n Bisschen Amok gelaufen damals…Da! Da seid ihr auch! Da! Das Video, wie ihr von der Schaukel fallt zum Beispiel. 1.362.783 Clicks/ Ist übel viral gegangen/ Als Baby schon Superstar/ Nee, hamwa nicht drüber nachgedacht…Nee, fanden wir lustig irgendwie…“?
Oder WAS sagt ihr dann!? Sagt ihr dann:
Whatever!?
Achso, ja, das ist ein Elephant!?
Ja, gibt’s nicht mehr!? Ja nee, Wasser gibt’s auch nich!?
Kein Geld für Wasser!? Glaubt ihr, wir sind Millionäre, oder wie!?
Hier haste `ne Cola!? Oh, da fällt dir ja schon wieder ein Zahn raus!?
Naja, wir haben eh nur noch Suppen hier im Bunker!?
Mama muss jetzt los!? Vielleicht haben die ja neue Leichen da oben? Weil Winterkleidung!?
Hier haste dein i-Pad!? Mach die Luke nicht auf nach Mitternacht!? Da kommen die Gasbomber!?…–
ODER WAS WOLLT IHR DENEN ERZÄHLEN?!?
WAS?!
ICH SCHREIE DOCH GARNICHT!
NEIN ICH SCHREIE NICHT!
WAS WÜTEND?!?
WER IST DENN HIER VERFICKT NOCHMAL WÜTEND?!
ICH SCHEISSE AUF DIE WUT!
HOCHKANT!
WEIL ICH EUCH
ALLE!
ABGRUNDTIEF!
LIEBE!
Plötzlich war es ganz still. Die sagen jetzt auch nix mehr, dachte er. Ich auch nicht. Ich nehme jetzt mein Doxepin, und werde schön runterkommen, schön Zen as Zen can, sagte er sich.
Ich kann es ihnen nicht erklären. Ich kann es ihnen einfach nicht erklären, dachte er. Dann ging er ermüdet ins Bad, setzte langsam die Dornenkrone auf, und begann seine 16:00 Meditation.
Kat Kaufmann, geboren 1981 in St. Petersburg, lebt als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin in Berlin. Ihr Roman Superposition erschien 2015 bei Hoffmann und Campe, Hamburg.
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